Das Leistungsprinzip wirkt schon im Kindergarten. Neben vielen Vorteilen, wie z.B. Pünktlichkeit, hat es auch viele Nachteile. Keiner spielt mehr. Überall muss performed werden. Wer zu langsam zu wenig erreicht, hat verloren. Das ist nicht nur der Maßstab, nach dem jeder Einzelne von uns beurteilt wird, sondern das ist auch der Maßstab, nach dem wir jeden anderen beurteilen: Was kann er oder sie leisten? Und es ist der Maßstab, nach dem du dich selbst beurteilst. Aber vielleicht bist du zu hart mit den anderen und mit dir selbst. Und "Selbstverwirklichung" bedeutet nicht, einem Ideal zu entsprechen, das ANDERE dir vorgeben.
Um Anerkennung zu erhalten, versucht man einem Ideal möglichst nahe zu kommen
Um Anerkennung zu bekommen, eifern wir einem gesellschaftlich vorgegebenen Ideal vom Guten, Wahren, Schönen nach.
Doch es wird offenbar immer wichtiger, reich und schön zu sein - das Gute und Wahre interessiert den
Massenmenschen nicht. Nicht nur, wenn eine Beziehung scheitert, denken
wir oft, ich hab nicht genug geleistet, ich bin nicht schön genug, nicht reich genug. Manche Menschen denken es immerzu.
Viele sagen, "daran sind die Medien schuld", weil die das Sprachrohr der Gesellschaft seien und mit den gephotoshoppten, idealisierten Schauspielern und Models
Vorbilder produzieren würden. Da bin ich anderer Meinung. Ich weiß, dass Medien ihren Zielgruppen nur das bieten, von dem sie glauben, dass diese es lesen, hören, sehen wollen. Also ein
Teufelskreis? Die Medien bieten alles, was die Leute wollen und die Leute wollen alles, was die Medien bieten? Nein, denn das Publikum hat einen Verstand und den benutzt es auch. Jeder kluge
Erwachsene überlegt, bevor er eine (teure) Entscheidung trifft: tut mir das gut oder schadet es jemand anderem oder der Umwelt? Und danach handelt er oder sie. Wird etwas auf kurze Sicht und
egoistisch entschieden, zeugt das nicht von einer besonders ausgereiften, erwachsenen, vernunftbegabten Persönlichkeit.
Wo bleibt die Vernunft?
Was normalerweise unter "Werden der Persönlichkeit" (vgl. Allport) oder der altgriechischen Weisheit "Erkenne dich selbst!" lief, verwechseln viele heute mit Selbstoptimierung. Und das Optimum richtet sich nach nur zwei Maßstäben: Reichtum und Schönheit. Die Leistungsfähigkeit wird ausgereizt, so weit es geht. Und es ist nicht so sehr die Verachtung des gesellschaftlichen Umfeldes, sondern es ist die eigene Verachtung und Scham, die wehtut, wenn man es noch nicht geschafft hat, reich und schön zu sein. Das bringt diese Menschen um den Schlaf. Und in meiner Praxis ist Schlaflosigkeit eines der Hauptthemen (es gibt übrigens nur drei Gründe für Schlaflosigkeit, aber das ist ein anderes Thema und soll an anderer Stelle diskutiert werden).
Wenn wir also uns selbst und andere verachten, weil unsere Leistungsbilanz nicht optimal
und die Reichtums- und Schönheitswerte nicht ideal sind, dann haben wir unseren Verstand verloren. Denn würden wir ihn noch besitzen, wüßten wir, dass dies nicht die Maßstäbe sind, nach denen man
den Wert seiner Mitmenschen und sich selbst beurteilt.
Wer kann sich schon selbst lieben, wenn er nicht reich und schön ist??
Früher war nicht alles besser. Trotzdem scheint es mir, als hätten die "einfachen Leute" früher selbstverständlich eine Existenzberechtigung gehabt. Und als
hätten die "einfachen Leute", bzw. diejenigen, die wenig verdienen und keinen perfekten BMI haben, sich selbst auch mehr
geachtet. Als hätte es für jeden eine passende Rolle in der Gesellschaft vor der Leistungsgesellschaft gegeben, in der er sich mit dem, was ihm an Talenten mitgegeben war, wohlfühlen
konnte. Es gab sogar Respekt für den Straßenfeger (dass die Abstiegsangst zzt. in der
Mittelschicht grassiert, ist ein weitreichenderes Thema und soll an anderer Stelle diskutiert werden). Jeder hatte seine Rolle und seinen Platz in der Gesellschaft und nur die Menschen,
die "aus der Rolle gefallen sind", über die hat man (nicht immer schlecht) geredet. Klassische Männer- und Frauenrollen waren in der "guten alten Zeit" zwar auch nicht immer ideal, aber sie
dienten dazu, den Menschen Halt zu geben.
Anscheinend ist mit dem Spaß am Konsum auch der Wettbewerb ein integrativer Bestandteil unserer westlichen Kultur geworden. Und wir alle spielen da mit. Längst können auch Frauen die alten Rollenklischees verlassen und aufsteigen. Und sie tun es so fleißig, dass sich kaum eine traut, "Hausfrau und Mutter" als Ziel anzugeben. Keiner fühlt sich so recht wohl, solange er oder sie noch nicht oben angekommen sind. Und die Wirtschaft versucht nicht nur, die Wünsche der Kundschaft zu erahnen, um ihnen die bestmöglichen Produkte bieten zu können, sondern auch, normative Prozesse mitzugestalten, sodass durch Werbung und politische Einflussnahme mitgestaltet werden kann, was "wünschenswert" ist und was nicht.
Nicht jeder kann sich alles "Wünschenswerte" leisten, also müssen manche auf der Strecke bleiben. Aber anstatt sich damit abzufinden und sich mit weniger zufrieden
zu geben, herrscht ein unglaublich hohes Maß an Unzufriedenheit und Abstiegsangst. Diese pushen den Wettbewerb, der stachelt das Selbstoptimierungsstreben an, das fördert den Konsum und damit
wird der Kapitalismus geschmiert. Das Streben nach dem perfekten Job, der perfekten Figur, der perfekten Haut, dem perfekte Haus, dem perfekten Lifestyle, der perfekten Familie hört nie auf. Es
geht immer noch glücklicher, besser, schneller, schlanker, teurer...
Der Unterschied zwischen Differenzierung und Diskriminierung verschwindet
Und währenddessen altern wir, erleben Phasen der Schwäche, brauchen Phasen der Ruhe. Und wenn wir sie uns nicht gönnen, werden wir krank - und dies ist auch eine Ursache für Burnout. Über Burnoutpatienten und Arbeitslose zu lästern, sie würden sich vor der Leistungspflicht drücken, ist meines Erachtens eine besonders eklige Form der Diskriminierung. Diskriminierung und Differenzierung werden in weiten Teilen der Wirtschaftswissenschaften übrigens synonym behandelt.
Alle wollen etwas Besonderes sein oder haben
Dass Fitness- und Ernährungsoptimierung der Gesundheit dienen, weiß jeder - und wir wissen auch, dass es schädlich ist, hier zu übertreiben. Aber auch in Mode und
Kosmetik treibt die gesellschaftliche Gruppendynamik zur kollektiven Selbstoptimierung so seltsame Blüten, dass das künstlich Gemachte überhaupt keine Verachtung mehr hervorruft. Währen die Mode
im Stadtbild in einer extrem langweiligen Monotonie versing, ist es gleichzeitig total angesagt, durch Zuschaustellung des Künstlichen aufzufallen: seine künstlichen Nägel zu zeigen, seine
künstlichen Wimpern, künstlichen Haarfarben und -verlängerungen. Immer mehr Männer lassen inzwischen nicht nur kosmetisch, sondern auch chirurgisch nachhelfen und einige junge Frauen schämen sich
nicht, ihre Lippen so stark aufspritzen zu lassen, dass jeder sehen kann, dass sie künstlich hergestellt worden sind. Das was früher als Entstellung galt, gilt jetzt als Statussymbol. Auch
Tätowierungen sind nichts mehr für Aussenseiter, sondern inzwischen zeigt mir jede dritte Rossmannkassierin ihre lustig bemalten Arme. Ich bewundere, diesen Mut, sich dauerhaft zu verzieren, auch
wenn es einem eines Tages vielleicht nicht mehr gefällt. Dass Unterklassensymbole von der Mittelklasse kopiert werden, als Modestatement, tres chic, ist nicht erst sei Ed Hardy bekannt. Dass
Tatoos jetzt den Mainstream erobern, geschieht vielleicht auch, um sich als Massenmensch etwas zu trauen, das provoziert. Provokationen sollen erreichen, dass man sich lebendiger fühlt, heißt es
in der Sozialpsychologie, aber sich selbst dafür zu entstellen und dass schön zu finden, war bisher das Privileg von Künstlern und Paradiesvögeln.
Individualisten sind für die Gesellschaft wichtig
Doch es bleibt nicht bei Mode und Kosmetikphänomenen: Sophia Wollersheim beispielsweise lässt sich ihre Taille so sehr verkleinern, dass man befürchten muss, sie
knickt bei der kleinsten Bewegung durch. Diese groteske Verwandlung teilt sie mit der Öffentloichkeit und bricht das Tabu, Fotos ihrer abgesägten, blutbeschmierten Rippen öfftentlich zu posten.
Angeblich fühlt sie sich wohl. Geht diese "Selbstoptimierung" noch als exotische Provokation durch oder hat sie sich sogar selbst verwirklicht mit dieser Umformung? Jeder weiß, dass es
nicht gesund ist und dass dies eine kindische Entscheidung war, aber so lange sie als abschrenkendes Bleispiel dient und die Transformation nicht in Deutschland stattfindet, ist unsere Welt noch
in Ordnung. Wenn jedoch die Wollersheim zur Trendsetterin wird und nun immer mehr junge Frauen dieser Trash-Ikone folgen und ihr Erspartes für chirurgische Eingriffe in den USA ausgeben wollen,
um sich selbst einem neuen Ideal anzupassen, dann... Ja, was dann? Dann können wir sie nicht daran hindern. Es steht jedem frei, sich selbst zu verunstalten. Aber in Deutschland ist es
tatsächlich verboten, sich selbst zu gefährden. Hier wäre sie in die Psychiatrie eingewiesen worden, weil man relativ klar von einer "Gefahr für sich selbst" ausgehen muss, wenn jemand dich zwei
Rippen entfernen lassen möchte, um eine schlankere Taille zu erhalten.
Wenn deine Selbstverwirklichung dich glücklich macht, dann macht sie die, die dich lieben, auch glücklich
Selbstaktualisierung nach Carl Rogers meint dagegen den heilenden Prozess, der wirkt, wenn du die Persönlichkeit, die in dir steckt, auch nach außen entfalten kannst. Der deutsche Begriff Selbstaktualisierung ist etwas doof, besser versteht man, was Rogers meint, wenn man "actually" übersetzt: das bedeutet nämlich "tatsächlich", bzw. "eigentlich" oder "wirklich" .... du verwirklichst also die Persönlichkeit, die eigentlich tatsächlich in dir steckt. Er erkannte, dass seine Patienten daran krankten, dass sie äußerlich Rollen spielen mussten, die ihrem inneren Streben jedoch (noch) nicht entsprachen. Und dazu gehört auch, einen Lifestyle zu finden, der innerlich wie äußerlich zu einem passt.
Ein krasser Unterschied zwischen Selbstbild und Fremdbild gibt immer viel Raum für psychische Probleme. Wenn du dich selbst optimieren willst, richtest du dich nach Äußerlichkeiten, also dem, was du glaubst, dass deine Nachbarschaft oder dein Freundeskreis oder die Gesellschaft von dir erwartet. Du willst entweder geliebt werden oder provozieren, also passt du dich dem Ideal an oder du wirst zum Paradiesvogel und provozierst, auch auf die Gefahr hin, dadurch zum Gespött zu werden. Dazwischen gibt es jedoch noch einen breiten Pfad, auf dem man zwischen Anpassung an ein (vermeintliches) Ideal und Aufbegehren gegen gesellschaftliche Konformität glücklich und zufrieden wandeln kann, ohne seine körperliche und seelische Gesundheit aufs Spiel zu setzen. Das Tolle am 21. Jahrhundert in Westeuropa ist, dass wir die Freiheit haben, auch ungewöhliche Lebsensstile auszuleben, ohne gesellschaftlich geächtet zu werden.
Wenn du dich selbst verwirklichen willst, richtest du dein äußerlich wahrnehmbares Leben nach deinem Innenleben, nach deinen Persönlichkeitsanteilen, die in dir schlummern und ermöglichst es ihnen, sich auszudrücken, ohne, dass du anderen damit schadest. Manchmal dauert der Prozess ein ganzes Leben. Einfach ist das nicht, wenn man sich früh entgegen der eigenen Dispostition für andere verbogen hat. Denn, wenn du dich jahrelang immer den Wünschen anderer gefügt hast und dafür mit ihrem Wohlwollen belohnt wurdest, dann ist es ganz schön schwer, seinen eigenen Weg zu gehen, ohne die Anerkennung der anderen. Du kannst kaum verhindern, dass "die Anderen" beleidigt sind und deine Selbstentfaltung zu verhindern versuchen. Dabei geht es um Macht. Nicht um Liebe, Freundschaft, Verwandschaft, Nachbarschaft, sondern nur um Machterhaltung und deren Trennungsschmerz, wenn du nicht mehr so funktionierst, wie sie das gerne hätten.
Selbstverwirklichung kann eine Weile lang auch eine verdammt einsame Angelegenheit sein. So lange, bis du endlich auf Gleichgesinnte triffst, die ähnlich ticken wie
du. Manchmal reicht es, diese Gleichgesinnten im Internet zu finden und sich dort mit ihnen auszutauschen, um zu erkennen, dass man nicht allein
ist.
Dann musst du nur noch lernen, nicht länger die Anerkennung derer erhalten zu wollen, deren Weg du verlassen hast. So kannst du deinen Frieden
finden.
Wie immer gilt: hier werden Klischees behandelt und selbstverständlich bestätigen viele prachtvolle Ausnahmen die Regel.
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